30. April 2024
Das Holzlager der Papiermühle von Iggesund. Alle acht Minuten wird hier ein 40-Tonner entladen

Ist „nachwachsend“ gleich „nachhaltig“?

Das Papierrecycling ist in Deutschland eine Erfolgsgeschichte: Kaum ein anderes Land erreicht eine derart hohe Wiederverwertungsquote, und in kaum einem anderen Land ist Recyclingpapier ein so begehrter Rohstoff, zum Beispiel für Wellpappe und andere Verpackungsmaterialien aus Karton, die ebenfalls wieder recycelt werden können. Ein geschlossener Kreislauf, könnte der Laie meinen, aber der Fachmann weiß es besser: Ohne stetige Zufuhr von Papier und Karton aus frisch gewonnenen Fasern lässt sich auch dieser beinahe perfekte Kreislauf nicht aufrechterhalten, denn nach mehrfachem Recyceln hat die Faserqualität soweit abgenommen, dass sie für eine erneute Verarbeitung ungeeignet sind.

Für Papier aber, das lernt heute jedes Kind, müssen Bäume sterben. Tatsächlich gehört es zu den großen Erfolgsgeschichten der Umweltbewegung, dass dem Raubbau an Wäldern und Landschaften zum Zwecke der Papiergewinnung in besonders in Europa Einhalt geboten wurde. Zertifikate wie FSC und PEFC sorgen dafür, dass sich Nachhaltigkeitsstandards auch in anderen Teilen der Welt und sogar in Asien allmählich, wenn auch langsam, durchsetzen. Die Papiermacher sind für viele Umweltaktivisten jedoch noch immer ein rotes Tuch: Die Produktion verschlingt nicht nur Unmengen an Holz, sondern auch immense Mengen an Energie und Wasser. Wasser, das anschließend belastet mit Faserresten und teils giftigen Chemikalien zu einer Brühe wird, die das Leben in Gewässern und Böden bedroht. Öffentlicher Druck und schärfere Bestimmungen haben viele Hersteller inzwischen zum Umdenken bewegt – wohl nicht zuletzt auch, weil die Abnehmer, unter ihnen viele global agierende Marken, von ihren Lieferanten inzwischen Nachhaltigkeitsnachweise verlangen.

Für Papier müssen Bäume gefällt werden. Das ist auch bei Iggesund so. Produktmanager Johan Granås erläutert, warum Iggesund trotzdem nachhaltig produziert. Foto: Andreas Tietz

 

Ein Musterbeispiel

Wie eine nachhaltige und dennoch effiziente Papierproduktion aussehen kann, zeigt das Beispiel Iggesund. Der zur schwedischen Holmen-Gruppe gehörende Kartonagenhersteller, der mit seinen hochwertigen Invercote- und Incada-Produktserien zu den Marktführern vor allem im Bereich der Verpackungs- und Faltschachtelkartons gehört, ist einer der Pioniere auf diesem Gebiet. Das Unternehmen kann auf eine jahrhundertealte Tradition in der Forstwirtschaft zurückblicken und sogar eine negative CO2-Bilanz vorweisen – d.h. Iggesund bindet in seinen Wäldern mehr schädliches Treibhausgas, als durch die Holzentnahme, Weiterverarbeitung und spätere Verwertung der Produkte – einschließlich dem Verbrennen – freigesetzt werden. Mit einer Fläche von rund 1,3 Millionen Hektar ist die Holmen-Gruppe einer der größten privaten Waldbesitzer in Schweden. Je nach Standort dominieren Kiefern oder Fichten die Baumgemeinschaft, Birken sind ebenfalls häufig, seltener Lärchen, Tannen und Espen. Das meiste davon ist seit mindestens 360 Jahren bewirtschafteter Kulturwald. Nur zwei Prozent der gesamten Waldfläche Schwedens sind echter Urwald. 90 bis 120 Jahre brauchen die Bäume, bis ihnen die Säge zu Leibe rückt. Selbst die ältesten und mächtigsten Kiefern, von denen immer einige stehen gelassen werden – gut und gerne über 200 Jahre alt – wurden hier vor vielen Generationen von Menschenhand gepflanzt. Jede Parzelle, die gerodet wurde, wird anschließend wieder aufgeforstet. Zum einen besorgt das die Natur selbst: Birken und andere Pionierpflanzen siedeln sich von selber an und bieten den Setzlingen Schutz, die zum anderen der Mensch in die Erde bringt. Millionen von ihnen werden jährlich in Iggesunds eigener Baumschule gezogen und an Frost gewöhnt – junge Kiefern oder Fichten zumeist, aber je nach Standort auch andere Baumarten. Die Samen stammen aus Zapfen, die zuvor vor Ort gesammelt wurden, und sind gentechnisch unverändert. Die Dominanz einer Baumart hat übrigens in diesem Fall nichts mit Monokultur zu tun. Aufgrund der unterschiedlichen Standortbedürfnisse findet man Kiefern und Fichten auch in unberührter Natur nur selten am selben Platz. Abgeholzt werden darf, das sei der Vollständigkeit halber erwähnt, nur nach einem behördlich genehmigten Plan: Bestimmte Bäume, schutzwürdige Biotope wie zum Beispiel Bachläufe oder Standorte etwaiger Bodendenkmäler müssen dabei ausgespart werden. Um die Einhaltung der Einschlagpläne sicherzustellen, werden die Erntemaschinen behördlicherseits mit GPS überwacht. Das ausgeklügelte Forstmanagement hat einen verblüffenden Effekt: Die jährliche Menge an Holz, die nachwächst, ist um einige Prozent größer als diejenige, die geschlagen und verbraucht wird – und der Holzhunger der Säge- und Papiermühle von Iggesund ist gewaltig. Zeit, sich diesem Aspekt der Papiergewinnung zuzuwenden.

Gift aus der Papierfabrik

Denn während nachhaltige Forstwirtschaft für Iggesund und die Schweden im allgemeinen seit Jahrhunderten selbstverständlich ist – schließlich ist der Wald dort so etwas wie ein Nationalheiligtum – sah die Sache produktionsseitig ganz anders aus. Als Iggesund 1916 die erste Zellstofffabrik aufbaute, gab es noch keine Umweltgesetzgebung, und Faserabfälle oder Chemikalien konnten mehr oder minder nach Belieben in Luft und Wasser abgelassen werden. In den ersten 50 Jahren der Fabrik hatte dies erhebliche negative Auswirkungen auf die Umwelt vor Ort. „Mitte der 1960er Jahre hatte die Einleitung einer Kombination aus Prozesschemikalien und Zellulosefasern den Meeresboden im Umkreis der Fabrik in eine Unterwasserwüste verwandelt“, berichtet Anna Mårtensson, Environmental Manager im schwedischen Werk von Iggesund Paperboard in Iggesund. „Ich hätte mir als Teenager nicht träumen lassen, dass ich mal in der Papiermühle arbeiten würde“, sagt die aus Iggesund stammende Umweltingenieurin. „Früher war das eine Dreckschleuder, ungeklärte Abwässer vergifteten die Bucht. Das Wasser roch unangenehm und hatte eine bräunliche Farbe. Sensible Arten an der Spitze der Nahrungskette im marinen Ökosystem waren aus der Umgebung des Werks verschwunden.“

Die Umweltingenieurin Anna Mårtensson kümmert sich bei Iggesund um eine möglichst nachhaltige und saubere Produktion. Foto: Iggesund

Der lange Kampf gegen den Dreck

Ökonomische ebenso wie ökologische Anforderungen haben dafür gesorgt, dass sich die Auswirkungen der Fabrik auf die lokale Umwelt seit dieser Zeit laufend verbessert haben. Die heutigen Produktionsverfahren nutzen den Holzrohstoff weitaus effizienter, so dass Ressourcen geschont werden und weniger organisches Material anfällt. Über 99 Prozent der Prozesschemikalien werden recycelt, und seit den 1970 Jahren wurden die Abwasserreinigungsmaßnahmen von Iggesund nach und nach mit einer mechanischen, biologischen und abschließenden chemischen Klärstufe ausgebaut. Das Verfahren ist nahezu identisch mit dem zur Trinkwasseraufbereitung.
„Laut Aussage von Fachleuten entspricht die Lösung hier im Werk Iggesund dem besten derzeit verfügbaren Stand der Technik“, fügt Mårtensson hinzu. „Außerdem konnten so unsere Schwefel- und Phosphoremissionen radikal gesenkt werden. Das ist besonders wichtig, weil unsere Abwässer in die Ostsee eingeleitet werden, die ohnehin stark von Eutrophierung bedroht ist.“ Eine wichtige Rolle kommt dabei den speziellen Setzbecken zu, in denen die Restfasern aus dem bei der Papierherstellung benötigten Wasser sedimentiert werden: „Diese Fasern wurden früher mit dem Wasser einfach ins Meer geleitet – kein Problem eigentlich, da sie ungiftig sind“, erläutert Mårtensson. „Aber bei ihrer Zersetzung entzogen sie dem Wasser den Sauerstoff und erzeugten eine lebensfeindliche Zone in der Iggesund-Bucht.“ Im Wasser rund um das Werk kann man heute wieder zum Verzehr geeignete Speisefische fangen. „Selbst mit Hilfe chemischer Analysen lassen sich diese Fische nicht mehr von solchen unterscheiden, die in Vergleichsgewässern abseits industrieller Anlagen gefangen werden“, erklärt Mårtensson. „Wir freuen uns sehr darüber, dass Arten wie Seeadler und Robben, die aus der Umgebung der Fabrik verschwunden waren, inzwischen wieder zurückgekehrt sind.“ Überprüft wird das übrigens regelmäßig durch unabhängige Wissenschaftler.

Saubere Umwelt kostet Millionen

Die Luftemissionen der Fabrik haben sich ebenfalls positiv entwickelt – die Werte für Schwefel und Stickstoff sind so weit gesunken, dass ihre lokale Umwelteinwirkung kaum noch nachweisbar ist. Die Schwefelemissionen sind ein Beispiel dafür, wie sich das systematische Umweltmanagement im Laufe der Zeit ausgewirkt hat. 1988 entließ das Werk Iggesund noch 1,98 Kilo Schwefel pro Tonne produzierten Zellstoffs in die Umwelt. Die heutigen Emissionen betragen mit 0,13 Kilo pro Tonne nur noch gut sechs Prozent davon. Der entsprechende Wert für die Gesamtmenge an Schwefel, die jährlich emittiert wird, ist von 540 Tonnen auf etwa 44 Tonnen pro Jahr gefallen. Damit sind die Schwefelemissionen insgesamt um 92 Prozent gesunken, obwohl die Produktion im selben Zeitraum um 25 Prozent gesteigert wurde. Das liegt unter anderem auch an einem zweiten, noch moderneren und effizienteren Boiler für die Papiermühle in Iggesund, der im Juni 2012 in Betrieb ging – mit rund 240 Millionen Euro war er eine der größten industriellen Einzelinvestitionen in Schweden. In der turmhohen Anlage wird das Holz gekocht und in Zellulose und Lignin aufgetrennt. Das energiereiche Lignin, eine Art Bindemittel im Holz, wird direkt wieder als Heizmaterial für den Boiler verwendet. Das macht Iggesund zusammen mit dem Strom aus den 21 konzerneigenen Wasserkraftwerken energieautark. Insgesamt hat Iggesund Paperboard seit 2011 rund 360 Millionen Euro investiert, um die Produktionsanlagen in Schweden und Großbritannien auf Bioenergie umzustellen. Die Werke in Iggesund und Workington werden nun fast vollständig ohne fossile Energieträger betrieben.

240 Millionen Euro hat sich Iggesund diesen Boiler kosten lassen, der 2012 seinen Betrieb aufnahm. Er macht das Werk komplett energieautark. Foto: Iggesund

 

CO2-neutraler Recyclingmotor

Das sind gute Nachrichten, denn die Nachfrage nach Papier und Karton steigt. Schon jetzt rollt allein in Iggesund alle paar Minuten ein vollbeladener 40-Tonner auf das Firmengelände. Die großen, langen Stämme gehen in die Sägemühle. Aus ihnen entsteht Rohmaterial beispielsweise für Möbel oder Bauholz, alles Übrige wird für die Fasergewinnung verwendet. Zwei Sorten von Frischfasermaterial entstehen in der Anlage: Kurze Fasern aus Birkenholz, lange Fasern aus Kiefern- und Fichtenholz. Zusammen mit viel speziellem Know-how und einer besonderen Papiermaschine werden daraus Iggesunds Vorzeigeprodukte: Die Invercote- und Incada-Kartons bestehen aus mehreren Schichten von Fasern unterschiedlicher Länge, was ihnen eine besondere Steifigkeit und Festigkeit verleiht – Eigenschaften, die besonders die Verpackungsindustrie schätzt. Um auf die generell wachsende Nachfrage der Verpackungshersteller nach Frischfaserkarton reagieren zu können, hat Iggesund im vergangenen Jahr eine neue Betriebsgenehmigung beantragt, um die Zellstoffproduktion zu erhöhen. Die Genehmigung wurde im Herbst 2016 erteilt und erlaubt es Iggesund, die Kapazität zur Herstellung von Zellstoff von 420 000 Tonnen jährlich auf 460 000 Tonnen zu erhöhen. Geplant ist außerdem eine Steigerung der Kartonproduktion von aktuell 400.000 Tonnen auf 450.000 Tonnen jährlich. Aus Sicht der Recyclingpapierhersteller eine frohe Botschaft, denn hochwertige Frischfaserprodukte wie die von Iggesund werden hier angesichts sinkender Produktionsvolumina bei den grafischen Papieren – bisher Hauptlieferant für Frischfasern im Recycling – händeringend gesucht. Sie treiben nicht nur den Verwertungskreislauf an sondern heben insgesamt die Qualität des Recyclingmaterials als Ausgangsprodukt.

Andreas Tietz

Andreas Tietz ist Diplom-Journalist mit Spezialisierung auf technisch-wissenschaftliche Themen. Nach mehreren Jahren in der IT-Branche berichtet er seit 2006 in verschiedenen Fachmedien über Neuigkeiten aus der Druck- und Papierindustrie sowie der Verpackungsindustrie.

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