19. April 2024

Auf den Zahn gefühlt

Es gibt nur wenige Regionen in Europa und weltweit, die für die Qualität der dort hergestellten Klingen so bekannt sind wie das Bergische Land im Herzen Nordrhein-Westfalens. In den wasserreichen Tälern entstanden schon früh in der Industrialisierung zahlreiche Schmieden und Schleifereien und bildeten so die Grundlage für ein einzigartiges Know-how.

Da wundert es nicht, dass es in der Gegend um Solingen und Remscheid auch heute noch viele kleine und mittelständische Betriebe gibt, deren Produkte weltweit nachgefragt werden. Einer dieser Betriebe gehört der Firma Winterhoff Picard in Remscheid, die sich auf Maschinenmesser für eine Vielzahl von Anwendungen in der Industrie spezialisiert hat. Genauer gesagt auf gezahnte Maschinenmesser, und die sägeartige Anmutung dieser Klingen ist ein direkter Hinweis auf die Historie des 1865 von Ewald Winterhoff gegründeten Familienunternehmens, das heute von Dagmar und Ralf Hüttebräucker geleitet wird. „Remscheid war ein Zentrum der Sägenherstellung, während man im Raum Solingen vorwiegend Scheren und Messer produziere“, weiß Dagmar Hüttebräucker, die 1991 das Unternehmen zusammen mit ihrem Ehemann Ralf vom Großvater übernommen hatte. „Auch die Firma Winterhoff stellte bis in die 1960er Jahre Sägen her. Heute machen wir das gar nicht mehr.“

Gezahnte Messer für beinahe jede Anwendung, schwerpunktmäßig aber für die Verpackungsindustrie, sind die Spezialität von Winterhoff-Picard.
Foto: Andreas Tietz

Jedem sein Zacken

Aber das Wissen darum, was man mit dem richtigen Zacken an der richtigen Stelle in der richtigen Form und Größe anfangen kann, blieb im Unternehmen und kam einem neuen, aufstrebenden Geschäftszweig zugute: Verzahnte Messer können ohne Gegenmesser schneiden und dringen sehr leicht durch das Material, ein großer Vorteil, wenn es um Geschwindigkeit und Energieaufwand geht. Die Nachfrage nach solchen Schneidlösungen stieg insbesondere aus der boomenden Verpackungsindustrie: Gezackte Ränder sind vor allem bei Beuteln erwünscht, bei mancher großen Marke ist die Art und Größe der Zacken sogar Teil der Markenidentität. „Da will jeder seinen eigenen Zacken haben“, schmunzelt Ralf Hüttebräucker und nennt als Beispiel zwei konkurrierende deutsche Süßwarenhersteller.

2003 wurden die Unternehmen Winterhoff und Picard an einem Standort zusammengeführt. Quelle: Winterhoff-Picard

In dem Bewusstsein, das die Optik einer Verpackung, selbst wenn es um solche unscheinbaren Details geht, immer wichtiger wird, baute Hüttebräucker die Messerproduktion für die Verpackungsindustrie daher zu einem Schwerpunktgeschäft aus und übernahm 1997 den ebenfalls in Remscheid ansässigen Wettbewerber Picard, der sich bereits auf gezahnte Messer spezialisiert hatte. 2003 wurden beide Unternehmen dann an einem neuen Standort zusammengeführt, wo heute rund 50 Mitarbeiter beschäftigt sind. „Es geht aber nicht nur um das Aussehen“, nimmt Ralf Hüttebräucker den Faden noch einmal auf, „sondern auch um eine gleichbleibende Qualität der Verpackung.“ Denn die Messer werden nicht einfach nur zum Abtrennen verwendet, sie können auch der Verpackung wichtige funktionale Eigenschaften verleihen. Als Beispiel nennt Hüttebräucker die aktuell steigende Nachfrage nach Messern für die Herstellung von Standbodenbeuteln. Hier hat Winterhoff Picard für einen Kunden eine spezielle Lösung entwickelt, bei der beim Schneidvorgang perforiert, eine Aufreißhilfe integriert und versiegelt wird.

Nachschliff als Service

Das Geheimnis eines jeden Messers ist sein Schliff, denn dabei geht es nicht allein um die Schärfe: Er muss optimal für den Einsatzzweck und das zu verarbeitende Material angepasst sein. Selbst Folie ist nicht gleich Folie – je nach Werkstoff, Materialstärke und Veredelung werden ganz unterschiedliche Anforderungen an ein Messer gestellt. Genau hier liegt – neben der üblicherweise geschliffenen, selten gefrästen Verzahnung – die Kernkompetenz von Winterhoff Picard, gespeist aus jahrzehntelanger Erfahrung. Die Spannbreite der Klingen reicht dabei von wenigen Zentimetern Länge bis hin zu Riesen mit einer Länge von 4,5 Metern, wie sie zum Beispiel in der Folien- und Papierindustrie zum Einsatz kommen. Die Rohlinge werden in der Regel mit dem Laser geschnitten, wärmebehandelt und dann geschliffen. „Das verschafft uns die nötige Flexibilität und Reaktionsgeschwindigkeit, denn viele unserer Messer sind Einzelstücke oder Kleinstserien“, so Hüttebräucker. Er zählt sowohl Maschinenanwender, die Ersatzteile bestellen, aber auch Messer aufarbeiten bzw. nachschleifen lassen, zu seinen Auftraggebern wie auch Maschinenhersteller – bei einigen ist Winterhoff Picard Erstausrüster. Geliefert wird an Kunden auf der ganzen Welt, und seit kurzem verfügt das Unternehmen auch über ein Vertriebsbüro in Chicago (USA).

Die meisten Messertypen entwickeln die Spezialisten von Winterhoff-Picard in enger Zusammenarbeit mit ihren Kunden. Quelle: Winterhoff-Picard

Hüttebräucker ergänzt: „Verpackungen ändern sich immer öfter und immer schneller, und daher vielfach auch die benötigten Messer. Hier ist natürlich auch die Beratung der Kunden eine unserer Stärken.“ In welchem Tempo das geschieht wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass bei Winterhoff Picard jedes Jahr zwischen 1500 und 2000 neue Messertypen gefertigt werden. Dabei verarbeitet das Remscheider Unternehmen über 100 verschiedene Werkstoffe, vorwiegend rostfreie Stähle. „Die muss man nicht nur kennen und bearbeiten können“, hakt Ralf Hüttebräucker ein, sondern auch in kleinen Mengen beschaffen können. Das ist im Stahlhandel, wo es eher um Tonnen als um Kilogramm geht, nicht immer ganz einfach.“ Eine typische Losgröße liegt bei etwa 50 Messern eines Models, das Unternehmen nimmt aber auch Aufträge ab zwei Exemplaren an und ist für die Produktion von Großserien gewappnet. Dafür wurde 2016 eigens ein Roboter für die Bestückung einer Schleifmaschine angeschafft – ein Beispiel dafür, dass auch in einem so traditionellen Gewerbe modernste Technik gefragt ist. Einige der Schleifmaschinen in der Produktionshalle von Winterhoff Picard wurden eigens nach den Vorgaben des Unternehmens gebaut.

Visionäre Entscheidung

Aber nicht nur in der Verpackungs- und Papierindustrie hat der Name Winterhoff Picard einen guten Klang. Das Unternehmen fertigt gezahnte Klingen für die verschiedensten Einsatzzwecke. Darunter sind Eisschaber ebenso wie Messer für die Reifen- und Gummiindustrie, für Verbundstoffe und Aluminium bis hin zu Lebensmitteln mit ihren besonderen Hygiene-Anforderungen. Eine vergleichsweise neue Anwendung ist der Zuschnitt von Kunststoffprofilen. Hier wurde bislang meist zur Säge gegriffen, jetzt aber vielfach auf beheizte Messer umgestellt. Der Vorteil: Weniger Abfall, saubere Schnittflächen und kein Grat, der entfernt werden muss. Die Entscheidung von Dagmar Hüttebräuckers Großvater, das Geschäft mit den Sägen zugunsten von Messern allmählich aufzugeben, erscheint angesichts dessen im Nachhinein beinahe visionär.

Dagmar und Ralf Hüttebräucker führen den mittelständischen Klingenhersteller seit 1991. Quelle: Winterhoff-Picard

Winterhoff Picard produziert am Standort in Remscheid Maschinenmesser und verwandte Produkte in den unterschiedlichsten Ausführungen, Geometrien und Formen. Neben gezahnten Messern gehören dazu auch glatte Klingen, Schaber, Laufschienen, Kreismesser und rotierende Messer. Je nach Einsatzzweck stehen viele verschiedene Materialien, Beschichtungen, Härteverfahren und Oberflächenbehandlungen zur Auswahl. Gefertigt wird nach Zeichnung, aber auch nach Muster oder sogar Skizze: In der Beratung wird gemeinsam mit dem Kunden ein maßgeschneidertes, oftmals individuelles Produkt entwickelt.

Andreas Tietz

Andreas Tietz ist Diplom-Journalist mit Spezialisierung auf technisch-wissenschaftliche Themen. Nach mehreren Jahren in der IT-Branche berichtet er seit 2006 in verschiedenen Fachmedien über Neuigkeiten aus der Druck- und Papierindustrie sowie der Verpackungsindustrie.

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